Widerruf & Rücktritt von Lebensversicherungen – jetzt erst recht!

Wer von 1995 bis 2007 Lebens- oder Rentenversicherungen abgeschlossen hatte, kann erhebliche Nachzahlungen verlangen. Voraussetzungen hierfür sind fehlerhafte Widerspruchsbelehrungen oder unvollständige Verbraucherinformationen. Dabei ist es völlig unerheblich ob diese Vesicherungen noch bestehen oder schon längst gekündigt wurden oder regulär abgelaufen sind. Die Vertragsbeendigung darf nur nicht vor dem 1.01.2003 geschehen sein (BGH Urt. v. 16.10.2013 IV ZR 52/12). 

Der europäische Gerichtshof (EuGH Urt. v. 19.12.2013, Az. C-209/12) und der Bundesgerichtshof (BGH Urt. v. 07.05.2014 IV ZR 76/11, Urt. v. 17.12.2014 BGH IV ZR 260/11 und  Beschluss v. 4.02.2015 IV ZR 460 / 14) haben sich in mehreren Entscheidungen mit dem zeitlich begrenzten Widerspruchs- und Rücktrittsrecht in §§5a Abs. 2 S.4 und 8Abs. 5, S.4 VVG a.F. befasst. Die rechtsunwirksamen und seit 1.01.2008 nicht mehr geltenden Vorschriften lauteten:

§5a Abs. 2 VVG a.F.

(…)

 

Abweichend von Satz 1 erlischt das Recht zum Widerspruch jedoch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.

(…)

§8 Abs. 5, S.4 VVG a.F.

(…)

Unterbleibt die Belehrung, so erlischt das Rücktrittsrecht einen Monat nach Zahlung der ersten Prämie.

(…)

Im Ergebnis ist festzustellen, dass bei mangelhafter Widerspruchs- oder Rücktrittsbelehrung oder unvollständigen Verbraucherinformationen ein ewiges Widerspruchs- und Rücktrittsrechtrecht besteht.

Nach Ausübung des Widerspruchs- und Rücktrittsrechtesrechtes fehlt rückwirkend die Rechtsgrundlage für die eingezahlten Prämien und es sind die Prämien einschließlich einer Nutzungsentschädigung zurückzuzahlen. Für die Bestimmung der Höhe der Nutzungsentschädigungen kann z.B. die Nettoverzinsung der Kapitalanlagen der Lebensversicherer (Quelle gdv.de) herangezogen werden. In den 90´ger Jahren lagen diese bei über 7%.  Anzurechnen sind jedoch bereits ausgezahlte Versicherungsleistungen und Rückkaufswerte. Dennoch können sich erhebliche Nachzahlungen ergeben.

Beispiel

Ein Mediziner schließt Mitte der 90`er Jahre bei einer Versicherung für Ärzte mehrere Lebensversicherungen zur Praxisfinanzierung ab. Versprochen und zur Darlehenstilgung einkalkuliert wurden rund 300.000,00 € an Ablaufleistungen aus diesen Versicherungen. Er bezahlt diese Versicherungen vertragsgemäß. Später, in 2011 stellt sich heraus, dass deren Ablaufleistungen weit unter der Prognose bei nur rund 240.000,00 € liegen. Er musste den Differenzbetrag von rund 60.000,00 € selbst an seine Bank zahlen.

Da aber die Widerspruchsbelehrungen, weder so deutlich geschrieben sind, dass sie „ins Auge springen“ noch darauf hinweisen, dass er sein Widerspruchsrecht in Schriftform ausüben musste, konnte er in 2015 noch den Verträgen widersprechen. 

Folge hiervon ist, dass die eingezahlten Prämien mit 7% zu verzinsen sind. Vom errechneten Ergebnis sind die bereits empfangenen Ablaufleistungen abzuziehen und es ergibt sich ein nachzuzahlender Betrag von rund € 100.000,00, welcher gegenüber der Lebensversicherung eingeklagt werden muss.  

 
Wie wird die Rückabwicklung eingeleitet?

Es ist zwecklos, es selbst zu versuchen. Ohne anwaltliche Hilfe werden ehemalige Versicherungskunden nicht ernst genommen. Häufigster Vorwurf gegen den Widerspruch ist das Argument der Treuwidrigkeit. Es soll angeblich treuwidrig sein, einen abgewickelten Vertrag nach langer Zeit rückabzuwickeln. Der Bundesgerichtshof in BGH IV ZR 76/11 hat zu klagenden Lebensversicherungskunden eine eindeutige Rechtsauffassung:

(…)

cc) Der Kläger verstößt mit seiner Rechtsausübung nicht gegen Treu und Glauben.

(1) Entgegen der Ansicht der Beklagten hat er sein Recht zum Widerspruch nicht verwirkt. Ein Recht ist verwirkt, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment). Letzteres ist der Fall, wenn der Verpflichtete bei objektiver Betrachtung aus dem Verhalten des Berechtigten entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen werde. Ferner muss sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten des Berechtigten in seinen Maßnahmen so eingerichtet haben, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde. Es fehlt hier jedenfalls am Umstandsmoment. Ein schutzwürdiges Vertrauen kann die Beklagte schon deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil sie die Situation selbst herbeigeführt hat, indem sie dem Kläger keine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erteilte

(2) Aus demselben Grund liegt in der Geltendmachung des bereicherungsrechtlichen Anspruchs keine widersprüchliche und damit unzulässige Rechtsausübung .Widersprüchliches Verhalten ist nach der Rechtsordnung grundsätzlich zulässig und nur dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Eine Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen. Die Beklagte kann keine vorrangige Schutzwürdigkeit für sich beanspruchen, nachdem sie es versäumt hat, den Kläger über sein Widerspruchsrecht zu belehren.

(…)

Nächstes Argument wäre das der Verjährung.  Der Bereicherungsanspruch auf Rückgewähr der Prämien sei verjährt. Dazu hat jedoch der BGH in seiner Entscheidung vom 8.04.2015 IV ZR 103/15 festgestellt, dass dieser Anspruch erst dann verjährt, wenn er durch den Widerspruch des Versicherungsnehmers und die Weigerung des Versicherers hierauf Folge zu leisten entstanden ist und nicht schon durch den Vertragsabschluss.

Was ist zu tun?

Sofern Versicherungskunden bereits rechtsschutzversichert sind, benötigen wir für eine kostenfreie Abschätzung der rechtlichen und wirtschaftlichen Erfolgsaussichten den

Versicherungsantrag und die

Police samt Begleitschreiben sowie Mitteilung über gezahlte

Prämien und

Versicherungsleistungen.

Sofern noch keine Rechtsschutzversicherung besteht, kann hierfür eine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen werden (BGH IV ZR 23/12), bevor Widerspruch oder Rücktritt ausgelöst werden.

Fazit


Wer sich über zu geringe Versicherungsleistungen ärgerte oder Liquidität benötigt, sollte seine archivierten Dokumente überprüfen - es kann sich auszahlen. Gern sind wir bei der Beschaffung von Abschriften früherer Verträge behilflich.


Jens Reime - Anwalt für Bank- & Kapitalmarktrecht

Rechtsanwalt Jens Reime
VCF Card downloaden

Artikel als PDF downloaden

Zurück