Vorvertraglichkeit - neues aus der Rechtsprechung

Nicht selten scheitern Ansprüche gegen eine Versicherung an dem Problem der Vorvertraglichkeit.

So entschied das LG Nürnberg-Fürth (Urteil vom 12.11.2015 - Az.: 8 O 9622/13) wie folgt:

Vertragsbeginn war ausweislich des Versicherungsscheins Januar 2012. Im Jahr 2009 hatte sich der Versicherte erstmals in der kieferorthopädischen Praxis vorgestellt. Es wurde dort ein viszerales Schluckmuster, ein Diastema mediale und eine sagittale Stufe festgestellt. Der Kläger reichte bei der beklagten Versicherung im Dezember 2012 nach erneuten Aufsuchen eines Kieferorthopäden einen Heil- und Kostenplan ein.

Die Beklagte erklärte daraufhin die rückwirkende Anpassung des Versicherungsvertrages wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht des Klägers und schloss darin Leistungen „für kieferorthopädische Behandlung sowie damit im Zusammenhang stehende Vor- und Nachbehandlungen“ aus.

Der Kläger ist der Ansicht, die Versicherung müsse den Betrag erstatten. Im Jahr 2009 sei eine Zahn- und Kieferfehlstellung nicht bekannt gewesen.

Das Gericht entschied, die Beklagte sie ist mangels Vorvertraglichkeit zur bedingungsgemäßen Erstattung der bereits angefallenen und zukünftig entstehenden Kosten der kieferorthopädischen Behandlung verpflichtet (§ 1 S. 1 VVG, § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 1 MB/KK). Der von der Beklagten erhobene Einwand der Vorvertraglichkeit ist unbegründet.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 MB/KK leistet der Versicherer nicht „für Versicherungsfälle, die vor Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten sind“. Die Beweislast für die Voraussetzungen solcher Vorvertraglichkeit liegen beim Versicherer.

Versicherungsfall ist nach § 1 Abs. 2 S. 1, 2 MB/KK „die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit … Der Versicherungsfall beginnt mit der Heilbehandlung; er endet, wenn nach medizinischem Befund Behandlungsbedürftigkeit nicht mehr besteht.“. Eine Heilbehandlung ist jegliche ärztliche Tätigkeit, die durch die betreffende Krankheit verursacht worden ist, sofern die Leistung des Arztes von ihrer Art her in den Rahmen der medizinisch notwendigen Krankenpflege fällt und auf die Heilung oder Linderung der Krankheit oder Verhinderung ihrer Verschlimmerung abzielt, mag auch dieses Endziel erst nach Unterbrechungen oder mit Hilfe weiterer Ärzte erreicht werden. Die Behandlung einer Krankheit beginnt nicht erst mit der unmittelbaren Heiltätigkeit, sondern schon mit der ersten ärztlichen Untersuchung, die auf die Erkennung des Leidens abzielt, ohne Rücksicht darauf, ob sofort oder erst nach weiteren Untersuchungen eine endgültige oder richtige Diagnose gestellt und mit den eigentlichen Heilmaßnahmen begonnen worden ist. Der Versicherungsfall endet schließlich mit der Behandlungsbedürftigkeit nach objektivem ärztlichem Befund.

Gemessen daran kann eine Vorvertraglichkeit nicht festgestellt werden. Die 2009 diagnostizierte sagittale Frontzahnstufe bei einem 9 Jahre alten Jungen stellt einen altersbedingten Normalbefund dar. Dieser vergrößerte Abstand zwischen den Zähnen des Ober- und Unterkiefers wird durch pubertäres Unterkieferwachstum und eine Abnutzung der Milchseitenzähne „von alleine“ reduziert. Das ebenfalls diagnostizierte Diastema mediale sei rein kosmetischer Natur gewesen. Das Diastema stelle weder eine medizinische Behandlungsindikation noch einen in der Folge überwachungsbedürften Zustand dar. Das ebenfalls diagnostizierte viszerale Schluckmuster sei ausweislich der Krankenunterlagen in der Folgezeit nicht mehr festgestellt worden. Es sei deshalb anzunehmen, dass sich das fehlerhafte Schluckmuster nach Beendigung der ersten Wechselgebissphase normalisiert habe, was eine altersentsprechende Entwicklung darstelle.

Was die letztlich zur Indikation der streitgegenständlichen kieferorthopädischen Behandlung führende Verlagerung der oberen Eckzähne angehe, sei nach Angaben der Sachverständigen die Panoramaschichtaufnahme von 2009 völlig unauffällig und erstmals anhand des Röntgenbilds vom Dezember 2012 - also nach Versicherungsbeginn - feststellbar gewesen. Die Überwachung des Zahnwechsels aus prophylaktischer Sicht sei richtig gewesen, auch wenn zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung eine spätere Behandlungsnotwendigkeit weder vorhersehbar noch zu erwarten gewesen sei. …

Das OLG Hamm (Urteil vom 11.09.2015 - 20 U 211/14) stellt dem angepasst besondere Voraussetzungen bei der Beweislast der Vorvertraglichkeit auf.

Die Klägerin macht Kostenerstattung für eine Zahnärztliche Behandlung geltend. Die beklagte Versicherung erhielt auf einem von ihr übermittelten Formschreiben den „letzten Befund“ des früher behandelnden Zahnarztes. Unterhalb der Unterschriftszeile heißt es: „Der Pat. wurden über die ganzen Jahre hinweg ZE-Vorschläge gemacht, für den OK eine Kombivers. 1.ne Variante mit Impl. Pat. war auch schon 2x beim Gutachter. Eine Teilversorgung des UK wurde 2005 angefertigt. Begründet wurde die Ablehnung des ZE mit, kein Geld, möchten erst Zusatzversicherung abschließen.“ Die Beklagte lehnte nach Erhalt dieser Unterlagen die Erbringung von Leistungen mit der Begründung ab, der Versicherungsfall habe sich vor Vertragsabschluss ereignet.

Das Gericht entschied dahin, dass der Klägerin ein bedingungsgemäßer Anspruch auf Kostenerstattung aus Anlass der zahnärztlichen Behandlung des Unterkiefers zustehe, jedoch nicht bzgl. Des Oberkiefers.

Zutreffend ist, dass der Versicherer gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 MB/KK 2009 nicht für Versicherungsfälle leistet, die vor Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten sind. Gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 MB/KK 2009 beginnt der Versicherungsfall dabei mit der Heilbehandlung, d.h. der ärztlichen Tätigkeit, die durch die betroffene Krankheit verursacht worden ist, sofern die Leistung des Arztes von ihrer Art her in den Rahmen der medizinisch notwendigen Krankenpflege fällt und auf die Heilung oder Linderung der Krankheit abzielt, mag dieses Endziel auch erst nach Unterbrechungen oder mit Hilfe weiterer Ärzte erreicht werden. Nach gefestigter Rechtsprechung beginnt die Heilbehandlung mit der ersten Inanspruchnahme einer solchen ärztlichen Tätigkeit, wobei zur Behandlung nicht nur die unmittelbare Heiltätigkeit, sondern auch schon die erste ärztliche Untersuchung, die auf ein Erkennen des Leidens abzielt, gehört, ohne Rücksicht darauf, ob sofort oder erst nach weiteren Untersuchungen eine endgültige und richtige Diagnose gestellt und mit den eigentlichen Heilmaßnahmen begonnen worden ist. Diese Auslegung trägt dem Umstand Rechnung, dass es andernfalls dem Versicherungsnehmer möglich wäre, zunächst eine ärztliche Diagnose und Beratung über mögliche Behandlungsformen einzuholen, sodann eine Krankenversicherung abzuschließen bzw. eine bestehende Krankenversicherung zu erhöhen und dann erst nach Ablauf der vertraglich bedungenen Wartezeit die Heilbehandlung in Anspruch nehmen zu können. Der Versicherungsfall endet erst, wenn nach objektivem medizinischem Befund keine Behandlungsbedürftigkeit mehr vorliegt, die Behandlung also abgeschlossen und nicht nur als unterbrochen anzusehen ist.

Gemessen daran ist Vorvertraglichkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 MB/KK 2009, soweit die Behandlung des Oberkiefers betroffen war, zu bejahen.

Demgegenüber kann eine fortbestehende Behandlungsbedürftigkeit auch des Unterkiefers bei Beginn des Versicherungsschutzes nicht festgestellt werden. Beweisbelastet für eine fortbestehende Behandlungsbedürftigkeit und damit einen im Zeitpunkt der Antragstellung „schwebenden“ Versicherungsfall ist die Beklagte. Denn § 2 Abs. 1 MB/KK 2009 trifft die Regelung, dass solche „Versicherungsfälle“, die vor Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten sind, vom Deckungsschutz ausgenommen werden. Hierdurch erlegt sich der Versicherer selbst die Beweislast dafür auf, dass der Versicherungsfall schon vor Eintritt des Versicherungsschutzes begonnen hat.

Diesen Beweis hat die Beklagte hinsichtlich des Unterkiefers nicht erbracht. Der Zeuge hat vielmehr im Gegenteil bekundet. Soweit er gegenüber der Beklagten eine „Teilversorgung“ benannt habe, habe sich dieser Begriff ausschließlich auf die Brücke als „Teil“ bezogen; es sei nur eine „Teilversorgung“ erforderlich gewesen.

Soweit die Beklagte die Auffassung vertritt, dass ein schwebender Versicherungsfall in der Zahnersatz-Zusatzversicherung bereits wegen der Behandlungsbedürftigkeit des Oberkiefers bei Versicherungsbeginn bestanden habe, da das menschliche Gebiss insoweit als funktionale Einheit zu bewerten sei, findet dies in den Versicherungsbedingungen keine Grundlage.

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Jens Reime - Anwalt für Bank- & Kapitalmarktrecht

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