Aufklärungs- und Beratungspflicht des Versicherers

Besondere Aufklärungs- und Beratungspflichten greifen, wenn dem Versicherer (objektiv) erkennbar ist, das hierfür ein gesteigertes Interesse und Notwendigkeit beim Versicherungsnehmer vorliegt.

Oberlandesgericht München: Beschluss vom 10.06.2015 – 25 U 945/15

Fall:

Die Klägerin ist Versicherungsnehmerin. Ihre Kinder (20 und 21 Jahre) befinden sich in der Ausbildung und sind mitversichert. Die beklagte Versicherung unterließ eine Information über günstigere Versicherungsbedingungen.

Entscheidung:

Dem beklagten Versicherer oblag eine vertragliche Nebenpflicht zur Beratung während der Vertragslaufzeit in Form einer Aufklärungs - und Beratungspflicht. Die Beklagte war verpflichtet, die Klägerin rechtzeitig in ausreichend deutlicher Weise darauf hinzuweisen, dass bezüglich der Kinder die Möglichkeit bestand, diese zum Ausbildungstarif zu versichern.

Für die Zeit vor dem 01.01.2009, somit für die Beratungspflicht hinsichtlich des Sohnes C, gilt das WG a.F., Art. 1 Abs. 1 EGVVG. Danach trifft den Versicherer eine Verpflichtung, den Versicherten auf die Möglichkeit eines von ihm gebotenen besseren (günstigeren) Versicherungsschutzes hinzuweisen, wenn die ihm bekannten Umstände ein entsprechendes Bedürfnis des Versicherten nahelegen; der Versicherer muss dann aufklären, wenn er erkennen oder mit der naheliegenden Möglichkeit rechnen muss, dass der Versicherungsnehmer aus mangelnden versicherungsrechtlichen oder versicherungstechnischen Kenntnissen nicht die für ihn zweckmäßigste Vertragsgestaltung gewählt hat. Diese Verpflichtung besteht auch bei Beitragsänderungen während des Versicherungsverhältnisses. Die Interessenlage ist hier ähnlich wie beim Neuabschluss des Versicherungsvertrages. Die Vertragsparteien sind in diesem Fall bereits durch ein Schuldverhältnis verbunden, durch das nach § 241 Abs. 2 BGB besondere Pflichten entstehen. Auf die Interessen des jeweiligen Vertragspartners ist Rücksicht zu nehmen.

Für die Zeit ab 01.01.2009, somit für die Beratungspflicht hinsichtlich der Tochter D gelten §§ 6, 7 WG n.F. i. V. m. §§ 1, 3, 6 WG InfoVO, Art. 1 Abs. 1 EGGVG; weder die Ermächtigung nach § 7 WG, noch die WG InfoVO haben abschließenden Charakter; weitere Hinweispflichten nach Treu und Glauben sind nicht ausgeschlossen. Nach § 6 WG hat der Versicherer den Versicherungsnehmer, soweit nach der Schwierigkeit, die angebotene Versicherung zu beurteilen, oder der Person des Versicherungsnehmers und dessen Situation hierfür Anlass besteht, nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu befragen und, auch unter Berücksichtigung eines angemessenen Verhältnisses zwischen Beratungsaufwand und der vom Versicherungsnehmer zu zahlenden Prämien, zu beraten; er hat dem Versicherungsnehmer den erteilten Rat und die Gründe hierfür klar und verständlich vor dem Abschluss des Vertrags in Textform zu übermitteln. Diese Verpflichtung besteht auch nach Vertragsschluss während der Dauer des Versicherungsverhältnisses, soweit für den Versicherer ein Anlass für eine Nachfrage und Beratung des Versicherungsnehmers erkennbar ist.

Sowohl nach der alten Rechtslage als auch nach der neuen Rechtslage bestand eine Beratungspflicht der Beklagten dahingehend, dass die Beklagte die Klägerin mit der Information über die Beitragsanpassung in Hinblick auf das Alter der Kinder deutlich und klar darüber hätte informieren müssen, dass - sofern sich die Kinder noch in der Ausbildung befinden - der wesentlich günstigere Ausbildungstarif in Betracht kommt.

Eine solche Information durch die Versicherung ist veranlasst. An einer solchen Information besteht ein erkennbares Interesse der Versicherten.

In sehr vielen Fällen, in denen 20 jährige über die Eltern mitversichert sind, befinden sich diese jungen Erwachsenen noch in der Ausbildung. Eine solche Konstellation ist nicht etwa ein Sonderfall, sondern der Regelfall. Sind junge Erwachsene mit 20 Jahren nicht mehr in der Ausbildung, so sind sie in der Regel nicht mehr bei den Eltern mitversichert, sondern selbständig versichert. Richtig ist, dass das Erreichen der Altersstufe und die damit verbundene Beitragserhöhung einen konkreten Anlass für die Versicherung darstellt, auf die Möglichkeit des Ausbildungstarifs hinzuweisen. Es handelt sich vorliegend nicht um allgemeine Änderungen im Tarifgefüge, für die es jedenfalls nach der Rechtslage für die Zeit vor dem 01.01.2009 keine anlassunabhängige Beratungsverpflichtung des Versicherers gab. Das Erreichen der Altersgrenze führt im konkreten Vertragsverhältnis zu einer Änderung der Beitragshöhe; diese ist für sehr viele Versicherte durchaus wichtig; die Erhöhung kann - was, wie dargestellt, in der Mehrzahl der Fälle in Betracht kommt - ohne weiteres durch den deutlich niedrigeren Ausbildungstarif abgefedert werden.

Für die Beklagte war und ist das auch ohne weiteres erkennbar; der Aufklärungsbedarf ist offensichtlich; die Klägerin kannte sich ersichtlich bei der Tarifgestaltung der Beklagten nicht aus. Daran ändern auch die - in diesem Punkt unübersichtlich gestalteten "wichtigen Hinweise zur Beitragsanpassung" nichts.

Eine solche - rechtzeitig vor der Beitragsumstellung zu erteilende - Information verursacht - auch im täglichen Massengeschäft - einen zu vernachlässigenden Aufwand. In den in der Regel automatisiert abgesetzten Schreiben könnte, hervorgehoben gedruckt, der allgemeine Hinweis enthalten sein, dass sofern sich das jeweilige Kind noch in der Ausbildung befindet, der wesentlich kostengünstigere Ausbildungstarif in Betracht kommt. Alternativ könnte beim Versicherungsnehmer nachgefragt werden. Eventuelle Nachteile, wie nach wie vor die geringeren Leistungen des Jugendlichentarifs oder fehlende Altersrückstellungen mit ungünstigeren späteren Prämien, könnten entweder in allgemein gehaltener Form oder aber auf Nachfrage, wenn der Versicherungsnehmer nach dem Ausbildungstarif Erkundigungen anstellt, mitgeteilt werden. In einem solchen Hinweis muss nicht spezifiziert auf die Kinder eingegangen werden. Erforderlich ist lediglich, dass in hinreichender Deutlichkeit auf den Ausbildungstarif hingewiesen wird. Damit waren auch Recherchearbeiten, welche Kinder der Klägerin betroffen sind, nicht geschuldet; eine einzelfallbedingte Beratung ohne Anlass ist nämlich nicht geschuldet.

Die Beklagte ist ihrer Beratungsverpflichtung nicht nachgekommen, insbesondere auch nicht durch Übersendung des allgemeinen Anschreibens. Hierdurch wurde vielmehr der den Eindruck erweckt, es handle sich um eine erforderliche Beitragsanpassung ohne Handlungsspielraum für die Klägerin.

Durch diese Informationen mit den jeweils beigefügten Versicherungsscheinen wird der Eindruck erweckt, es handle sich um eine erforderliche und unausweichliche Beitragsanpassung. Dem steht nicht entgegen, dass die "wichtigen Hinweise zur Beitragsanpassung" in Bezug genommen und beigefügt waren, da dort zwar die Möglichkeit des Ausbildungstarifs erwähnt ist, dieser Hinweis jedoch in der Vielzahl weiterer Hinweise untergeht und deshalb nicht ausreichend ist; wegen seiner in Anbetracht der vorgenommenen Beitragsanpassung besonderen Bedeutung hätte er in unmittelbaren Zusammenhang mit dieser oder sonst hervorgehoben erfolgen müssen, um seinen Zweck erreichen zu können.

Entsprechend hat die Klägerin angegeben, dass sie das so verstanden hat, dass an der Beitragsanpassung nicht zu rütteln ist. Auch bei einer Nachfrage bei der Beklagten hätte sie keine weitere Information bekommen, Dort hätte man ihr nur gesagt, dass bei Erreichen der Altersstufe der Beitrag entsprechend anzupassen ist. Auf den Ausbildungstarif wurde nicht hingewiesen.

Die eng bedruckten Schreiben mit den "wichtigen Hinweise zur Beitragsanpassung" sehen ohne Hervorhebung mitten im Text unter der Überschrift .Altersgruppe" den Hinweis vor, dass die Beklagte bei in Ausbildung befindlichen Personen gerne attraktive und preisgünstige Angebote nach Ausbildungstarifen erstellen würde. Hierbei handelt es sich weder um eine hinreichend klare und verständliche Beratung im Sinne des § 6 WG noch um eine ausreichende Aufklärung. Der äußerst wichtige Text ist drucktechnisch nicht hervorgehoben; er steht relativ weit hinten im Text unter einer Überschrift, die keinen ausreichenden Bezug zu der Thematik aufweist, und geht in einer Vielzahl von Hinweisen beispielsweise zur Rechtsgrundlage für die Beitragsanpassung, zum allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und zur Umsetzung der gesetzlichen Vorgabe, zu Ursachen der Beitragsanpassung, zu allgemeinen gesetzlichen Informationspflichten bei Beitragserhöhungen, zur Angleichung der Höchstbeträge in der privaten Pflegepflichtversicherung und im Standardtarif und zur Änderung der allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung unter. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann bei dieser Sachlage den Zusammenhang nicht hinreichend herstellen und wird ihn nicht dahingehend verstehen, dass er alternativ zu der vom Versicherer bereits vorgenommenen Beitragsanpassung den Ausbildungstarif wählen kann; zudem besteht die Gefahr, dass der Versicherungsnehmer den Hinweis überliest. Wegen seiner Bedeutung in Verbindung mit der vollzogenen Beitragsanpassung hat der Hinweis jedoch entweder in unmittelbaren Zusammenhang mit dieser zu erfolgen oder er hat in sonst geeigneter Weise hinreichend klar zu erfolgen und ist deutlich hervorzuheben. Die vorliegende Fassung des Hinweises genügt diesen Anforderungen nicht.

Daher ist auch durch die "wichtigen Hinweise zur Beitragsanpassung" die Aufklärungs - und Beratungsverpflichtung der Beklagten nicht erfüllt.

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